"Haben wir es überstanden?" oder "Kennst Du eigentlich einen einzigen Coronapatienten?"

Ihre Hausarztpraxis Bornemann
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"Haben wir es überstanden?" oder "Kennst Du eigentlich einen einzigen Coronapatienten?"

Ihre Hausarztpraxis Bornemann
Veröffentlicht von Dirk Bornemann in Praxisnachrichten · 6 Mai 2020
 
Heute haben die Kanzlerin und die Ministerpräsidentin gemeinsam den weiteren Weg in der/aus der Krise besprochen. Weitere Lockerungen in allen Bereichen unter Aufrechterhaltung der Kontaktsperre (jetzt dürfen sich Angehörige aus zwei Haushalten unter Einhaltung der Abstandregel treffen) sind vereinbart worden. Auch bis jetzt nicht gelockerte Bereiche wie die Gastronomie sollen mit in die Lockerung einbezogen werden. Lokal und regional soll bei Wiederaufflammen reagiert werden; wenn mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einem Landkreis binnen 7 Tagen auftreten, soll mit einer Verschärfung des Beschränkungskonzepts reagiert werden.

 
 
Dann haben wir es ja wohl überstanden! Oder?

 
 
Nicht nur in den Medien, im Netz, nein, auch in der Praxis mehren sich die Stimmen, die fragen, ob man das nicht auch alles, was beschränkt wurde, für überzogen halten müsste. Die Schweden,  ja, die hätten das doch richtig gemacht. Da wären keine größeren Einschränkungen durchgesetzt worden und das ginge doch auch. Das Argument "wir machen unsere gesamte Wirtschaft kaputt, um Menschenleben von Menschen mit Vorerkrankungen zu verlängern, die sonst vielleicht ein halbes Jahr später verstorben wären", das im Zusammenhang mit den Äußerungen der Professoren Püschel (Rechtsmediziner) und Homburg (Finanzwissenschaftler) ins Gespräch kommt, zudem, dass ja vor dem Lockdown die Zahl "R" schon gefallen sei und das ja Vorerkrankungen die entscheidende Rolle spielen und Corona doch eine relativ normale Erkältungskrankheit sei, das sehe man doch an den Sterberaten, das sind Aussagen, die immer mehr zu hören und lesen sind.

 
 
In Deutschland sind die "Zahlen" nicht schlecht. Die Krankenhäuser nicht voll. Nach den ersten Applauskundgebungen für alle Krisenakteure ist aber (vielleicht auch, WEIL es im Vergleich ganz gut aussieht?) die Stimmung gekippt. Mehr Freiheit, mehr Wirtschaftsaktivität, weniger Beschränkungen werden gefordert. Sind die Bilder aus Norditalien oder aus New York schon so sehr aus der Erinnerung verschwunden? Unter für uns alle zuvor unvorstellbaren Einschränkungen und Beschränkungen für jeden Einzelnen von uns und der wirtschaftlichen Bedrohung, wahrscheinlich auch für fast jeden Einzelnen, haben wir gemeinsam geschafft, diese "Zahlen" zu erreichen. 7000 gezählte Tote an Corona bis jetzt bei 165.000 positiv getesteten Patienten. "Aber es sind ja sicher viel mehr Infizierte, bis zu 10 mal so viele", wird geschätzt, "Dunkelziffer" lautet das Stichwort. Die "Heinsbergstudie" lässt den Schluss zu, die Sterblichkeit liegt unter 0,5% der Infizierten. Lassen wir außen vor, dass die Studie nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sein kann und rechnen das trotzdem großzügig mal mit diesen Werten hoch, nehmen dafür eine Sterblichkeitsrate von 0,5% (so nebenbei, die Sterblichkeitsraten bei den saisonalen Grippeerkrankungen liegt bei 0,1% maximal), dann bedeutete das anhand der Toten hochgerechnet 7000 x2(=1%) x 100(=100%) ergibt 1,4 Millionen Infizierte. Also, auch da wieder grob gerechnet, das 10-fache der bestätigten Zahlen. Aber selbst bei dieser Dunkelziffer ist die Herdenimmunität (60-70% von 80.000.000 sind etwa 50-55 Millionen Mitbürger) meilenweit entfernt. Und mal im Ernst: 0,5% Sterblichkeit, das wären allein bei 50.000.000 "notwenidg Infizierten" mindestens 250.000 Tote allein in Deutschland! Ach ja, Schweden: Schweden hat bisher tatsächlich "nur" knapp 3000 Tote, die Hälfte von uns. Aber auch "nur" 24.000 Infizierte, das sind 15% von unseren. Überhaupt gibt es nur 10 Millionen Schweden auf einer Fläche, die um rund 15% größer ist als Deutschland. In Schweden lebt man, außer in den Ballungsräumen sowieso viel weitläufiger, fast eine natürliche Kontaktsperre.

 
 
Die Erkrankungszahlen in Deutschland jetzt halten sich im Rahmen; deshalb sind Lockerungen berechtigt und ein Steigern in allen Bereichen der Wirtschaft, auch in Tourismus und Gastronomie, vor allem aber in Schule und Bildung gerechtfertigt. Sorge macht, dass dadurch der Eindruck "geschafft, und so schlimm war es gar nicht" und "die anderen tragen ja auch Maske und es gibt ja gar nicht so viele Infizierte zur Zeit" auch dazu führen könnte, Vorsicht zu reduzieren, Abstand zu mindern, Kontakte stark und näher zu steigern. Jeder von uns ist versucht. Besonders hier bei uns, in den nicht so stark betroffenen Regionen der Republik.

 
 
Es gibt Menschen, die selbst Corona positiv, das schwerer betroffene Familienmitglied nach 6 Wochen mit Koma und Beatmung das erste Mal wieder für eine Stunde besuchen dürfen und damit zu kämpfen haben, dass sie in der für sie schweren Zeit nicht füreinander da sein konnten. Und es gibt Menschen, die allein, ohne ihre Angehörigen den Kampf gegen das Virus nicht gewinnen. Ja, es sind so gut wie immer Patienten mit Vorerkrankungen, häufig ältere. Aber das Gefühl, die Ohnmacht, die Frau, den Mann, die Mutter, den Vater, Oma oder Opa allein im Krankenhaus gelassen haben zu müssen, aus der Entfernung den schlechten Zustand am Telefon miterleben zu müssen, nicht "da sein" zu können, wenn es schlechter geht oder sogar auf den letzten Schritten nicht begleiten zu können oder dürfen, weil ja Quarantänemaßnahmen gelten müssen, das ist fürchterlich, das ist im wahsten Sinne grausam - für die Menschen, die krank, sterbenskrank sind und für die , die bleiben und mit diesem Erlebnis leben lernen müssen. Egal, ob ein Mensch ohne Corona einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrzehnt weitergelebt hätte, er hätte nicht alleine sein müssen  - ohne Corona. Jeder, der sagt, man riskiere die gesamte Wirtschaft, um so Wenigen, so wenig Lebensverlängerung zu schenken, möge sich vorstellen, wie es ist, von einem geliebten Menschen im schlimmsten Fall nicht mal Abschied nehmen zu können, weil man selbst in Quarantäne ist. Von der Trauerfeier will ich gar nicht reden.

 
 
Es geht nicht nur um die, die das Virus besiegt. Es geht auch um die Menschen, die in deren Umkreis gehören. Es geht um die Angst, die Sorge, die Erfahrundgen und Erinnerungen die das Virus und die Erkrankung machen.

 
 
Zu denken, es sei geschafft, ist kurzsichtig. Es ist sinnvoll, in gesundem Maß und VORSICHTIG alles wieder hochzufahren, ABER: Bitte halten Sie weiter Abstand, tragen Sie Ihre Masken, halten sich an die Hygieneregeln. So gut vorstellbar es ist, dass isoliert sein zuhause, nicht einkaufen zu gehen, wenn man zu einer Risikogruppe gehört, oder einen runden Geburtstag nicht zünftig mit Freunden zu feiern, uns alle furchtbar nervt - es bleibt wichtig. Für uns alle, um den Virus eingedämmt zu halten, für uns selbst um nicht zu erkranken und für unsere Angehörigen, um sie zu schützen.

 
 
Wenn alle sich weiter an die Regeln erinnern, dann kann der Virus hoffentlich im Zaum gehalten werden. Es wird zu Ausbrüchen kommen. Viele Experten gehen von einer zweiten oder dritten Welle aus. Nur wenn Ausbrüche so schnell wie möglich eingedämmt werden können, und dazu werden zeitweise lokale Erhöhungen im Beschränkungskonzept notwendig sein, werden wir das ohne erneuten Lockdown überstehen.

Hoffen wir gemeinsam, dass die (ja schon sehr positiv interpretierte) Heinsbergstudie noch viel zu hohe Sterblichkeitsraten anzeigt, hoffen wir das Medikamente und eine Impfung gefunden werden, hoffen wir, dass es eine belastbare Immunität für einen langen Zeitraum gibt, damit die "notwendigen Infektionszahlen" zum Erreichen einer Herdenimmunität, die das Virus besiegt, weil es keine Opfer mehr findet, nicht so hoch werden müssen. Denn wir können sicher sein, wenn das nicht gelingt und tatsächlich 0,5% schwerst betroffene Menschen an oder mit Corona sterben, dann wird jeder von uns einen von diesen Menschen kennen, wahrscheinlich sogar ihm nahe sein.

 
 
Bleiben Sie bitte aufmerksam
 
und bleiben Sie gesund!



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1 Rezension
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Anke Küchenmeister
12 Mai 2020
Alles gelesen😉Toll und informativ geschrieben👍
für die ganze Familie
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