„Beispielitis“ oder „Was bedeutet eigentlich „R“?“

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„Beispielitis“ oder „Was bedeutet eigentlich „R“?“

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Veröffentlicht von Dirk Bornemann in Praxisnachrichten · 13 Mai 2020
„R-Wert“
„Reproduktionszahl“
„R0“


Oh, Mann, was ist das alles? Matheleistungskurs in der Schule hat nicht gereicht, um das zu verstehen. Also: habe ich gelesen – um zumindest eine Ahnung zu bekommen.

Alle diese Begriffe stammen so oder so ähnlich aus der Epidemiologie, also der Wissenschaft, die sich mit allem, was mit Epidemien zu tun hat, beschäftigt. Ein Versuch, an der Erkrankung „Beispielitis“ diese Zahlen zu verstehen.

„Beispielitis“ sei eine Erkrankung, die ganz neu aufgetreten ist, vorher noch nie da war und damit auch nirgendwo durch Immunität oder Impfung, Medikamente oder Schutzmaßnahmen, die man alle nicht kennt, aufgehalten oder gestoppt wird.

1. Basisreproduktionszahl „R0“ (sprich R „Null“)
Das ist die Zahl an Menschen, die ein Infizierter, in unserem Beispiel „Emil“ mit „Beispielitis“ insgesamt weiter infiziert, unter der Voraussetzung, dass das Leben in Emils Lebensbereich so weiterläuft wie bisher. Sie ist abhängig von der Anzahl der Kontakte mit anderen, die Emil in einem bestimmten Zeitraum hat, die mittlere Dauer, in der Emil einen anderen anstecken kann und der Wahrscheinlichkeit mit der man sich infiziert, wenn man Kontakt mit Emil hat. Die Epidemiologen setzen das dann noch in ein Modell, in dem geschaut wird, ob Emil nach der Ansteckung gesund wird oder nicht und ob er immun wird oder nicht.
Es gibt Menschen, die daraus eine mathematische Formel (mit mehreren nicht besonders eindeutigen einzelnen Bestandteilen) konstruieren und diese Zahl mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit berechnen können. Letztlich ist das eine Schätzung.

Nun steckt Emil also immer mehr Menschen an. Stellen wir uns vor, Emil wohnt auf einer Insel, dort leben neben ihm 100 Menschen. Und die, die er angesteckt hat, wieder andere, nennen wir sie „Emilisten“. Daraus entsteht die nächste Begrifflichkeit. Für Beispielitis nehmen wir an, „R0“ sei 3 (also Emil steckt im Laufe seiner Erkrankung drei andere auf dieser Insel an).

2. Reproduktionszahl, oder besser Nettoreproduktionszahl „R“
Von nun an wird’s erstmal einfacher – wenn die erste Zahl halbwegs verstanden ist, was zweifelsfrei nicht ganz einfach ist.
„R“ beschreibt, wie sich „R0“ im Lauf der Zeit verändert. Eine der Einflussmöglichkeiten ist, dass, wer infiziert ist, nicht mehr infiziert werden kann. Mathematisch heißt das, dass die Basisreproduktionszahl mit einem Faktor multipliziert wird. Wenn Emil „seine“ drei Mitinsulaner infiziert hat, dann können von den 100 Insulanern nur noch 97 angesteckt werden. Also ist jetzt „R“ = „R0“ x 97/100. Daraus wird klar, dass „R“ zu unterschiedlichen Zeitpunkten ganz unterschiedlich ist, weil, nachdem auch die ersten drei Emilisten, die Emil angesteckt hat, die „ihre“ drei weiteren Infektionen verteilt haben, „R“ weiter fällt, dann nämlich ist „R“ zu Zeitpunkt 2 „R0“ x (3+9)/100. Nun wird mir auch klar, warum Abstand und Kontaktsperre etwas ausmacht. Denn wenn auf der Insel ein Berg ist, den Emil und seine Emilisten nicht erklimmen können und auf dem 30 Menschen leben, dann steht im Nenner nicht mehr 100 sondern 70 und R wird drastisch kleiner.

Warum geht „R“ hoch und runter?
Dass Emil drei andere ansteckt, ist natürlich eine rein statistische Größe. Emil könnte auch nur 2 Emilisten anstecken, dafür einer von diesen 7 und so weiter.

In unserem Gedankenspiel zieht Emil um und wohnt in A-Stadt und sein Bruder „Otto“ in B-Hausen. Ihr Cousin „Wilhelm“ ist in C-Dorf ansässig. Emil steckt mit seinen Emilisten in A-Stadt schnell viele Menschen an. Die Zahl der Neuinfektionen steigt sprunghaft aus einem werden vier, aus vier 13, daraus 40 und so weiter, immer schneller, immer mehr. Und so lange das in A-Stadt weiter mehr wird, immer mehr Infizierte entstehen, sinkt, weil in B-Hausen und C-Dorf ja auch eine große Menge Menschen wohnen, der R-Wert nicht merklich. Bis die Emilisten beginnen, Masken zu tragen oder zuhause zu bleiben oder immun zu werden. Dann sinkt „R“. Bis Otto den armen Emil besuchen fährt, sich in A-Stadt infiziert und die Erkrankung nach B-Hausen bringt. Dort geht die Infektionskette der „Ottonen“ los und relativ gesehen steigt die Ansteckungsfähigkeit wieder. Und damit „R“. Auch klar wird, dass „R0“ und „R“ in A-Stadt, B-Hausen oder C-Dorf (oder Deutschland und Schweden) ganz unterschiedlich sein können. Und das Robert-Koch-Institut veröffentlicht jeden Tag einen gemittelten Wert aus ganz Deutschland. Die Schwankungen werden umso deutlicher, je geringer die Anzahl der Neuinfektionen ist, weil dann neue „Nester“ stärker ins Gewicht fallen; dort ist ja die Infektiosität höher.

Weil sich Menschen bei Corona schon vor Beginn der Symptome, die nach 4-10 Tagen (im Mittel 5) auftreten, andere Menschen infizieren (2 Tage vorher schon möglich), ein Testergebnis dauert (1-3 Tage) und die Übermittlung an das örtliche Gesundheitsamt und das Robert-Koch-Institut dauert (im schlimmsten Fall mit Wochenende bis zu 4 Tagen), ist die Berechnung nur rückwirkend möglich. Der „aktuelle“ R-Wert ist eine Schätzung aus der Schätzung,  die aufgrund der statistischen Einrechnung all dieser für mich unwägbaren Faktoren entsteht. Faszinierend, dass es Mathematiker gibt, die das so können, dass das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch nach 4 oder 8 oder 13 Tagen ziemlich sicher stimmt. Vielleicht hätte ich in Mathe besser aufpassen sollen.             Neeeee, eher nicht…

Ach übrigens: Für den armen Emil habe ich ein Medikament, für die Menschen in A-Hausen einen Impfstoff erfunden, ich produziere wie wild, A-Hausen ist gerettet. Solange ich noch nicht genug für B-Dorf habe (Sie erinnern sich, Otto und seine Ottonen haben ein Infektionsnest), müssen dort alle mit Maske rumlaufen oder besser zuhause bleiben. Und die Stadtgrenzen von C-Dorf habe ich geschlossen, da kommt keiner rein. Deswegen werden alle gesund bleiben, bis genug Impfstoff da ist. Und versprochen: Sterben wird an Beispielitis keiner!




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1 Rezension
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Anke Küchenmeister
14 Mai 2020
Wieder bis zum Ende gelesen😉
Und dank Ihrer smart vereinfachten Erklärung habe ich die "R-Geschichte", sogar auch ohne Matheleistungskurs, einigermaßen verstanden!
Vielen Dank dafür!
für die ganze Familie
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